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Joseph Roth

Radetzkymarsch

  • Luis Alvhas quoted3 years ago
    Allmählich verwandelte sich auch Trottas Enttäuschung in wohliges Weh. Er schloß eine Art Bündnis mit seinem Kummer. Alles in der Welt war heute im höchsten Maße traurig, und der Leutnant war der Mittelpunkt dieser erbärmlichen Welt. Für ihn lärmten heute so jämmerlich die Frösche, und auch die schmerzerfüllten Grillen wehklagten für ihn. Seinetwegen füllte sich die Frühlingsnacht mit einem so gelinden, süßen Weh, seinetwegen standen die Sterne so unerreichbar hoch am Himmel, und ihm allein blinkte ihr Licht so vergeblich sehnsüchtig zu. Der unendliche Schmerz der Welt paßte vollkommen zu dem Elend Trottas. Er litt in vollendeter Eintracht mit dem leidenden All. Hinter der tiefblauen Schale des Himmels sah Gott selbst auf ihn mitleidig hernieder
  • Luis Alvhas quoted3 years ago
    Er schlief ruhig ein, er glaubte, das Schwerste hätte er überstanden. Er wußte nicht, der alte Herr von Trotta, daß ihm das Schicksal bitteren Kummer spann, dieweil er schlief. Alt war er und müde, und der Tod wartete schon auf ihn, aber das Leben ließ ihn noch nicht frei. Wie ein grausamer Gastgeber hielt es ihn am Tische fest, weil er noch nicht alles Bittere gekostet hatte, das für ihn bereitet war.
  • Luis Alvhas quoted3 years ago
    "Es war damals anders", erwiderte Skowronnek. "Nicht einmal der Kaiser trägt heute die Verantwortung für seine Monarchie. Ja, es scheint, daß Gott selbst die Verantwortung für die Welt nicht mehr tragen will. Es war damals leichter! Alles war gesichert. Jeder Stein lag auf seinem Platz. Die Straßen des Lebens waren wohl gepflastert. Die sicheren Dächer lagen über den Mauern der Häuser. Aber heute, Herr Bezirkshauptmann, heute liegen die Steine auf den Straßen quer und verworren und in gefährlichen Haufen, und die Dächer haben Löcher, und in die Häuser regnet es, und jeder muß selber wissen, welche Straße er geht und in was für ein Haus er zieht. Wenn Ihr seliger Herr Vater gesagt hat, aus Ihnen würde kein Landwirt, sondern ein Beamter, so hat er recht gehabt. Sie sind ein musterhafter Beamter geworden. Aber als Sie Ihrem Sohn sagten, er solle Soldat werden, haben Sie unrecht gehabt. Er ist kein musterhafter Soldat!"

    "Ja, ja!" bestätigte Herr von Trotta.

    "Und deshalb soll man alles gehen lassen, jedes seinen eigenen Weg! Wenn mir meine Kinder nicht gehorchen, bemühe ich mich nur noch, nicht die Würde zu verlieren. Es ist alles, was man tun kann. Ich sehe sie mir manchmal an, wenn sie schlafen. Ihre Gesichter scheinen mir dann ganz fremd, kaum zu erkennen, und ich sehe, daß sie fremde Menschen sind, aus einer Zeit, die erst kommen wird und die ich nicht mehr erleben werde. Sie sind noch ganz jung, meine Kinder! Das eine ist acht, das andere zehn, und sie haben runde, rosige Gesichter im Schlaf. Dennoch ist sehr viel Grausames in diesen Gesichtern, wenn sie schlafen. Manchmal scheint es mir, daß es schon die Grausamkeit ihrer Zeit ist, der Zukunft, die im Schlaf über die Kinder kommt. Ich möchte nicht diese Zeit erleben!"
  • Luis Alvhas quoted3 years ago
    Er ging, wie jeden Tag, an seine Arbeit. Und niemand wäre imstande gewesen zu erkennen, daß Herr von Trotta seinen Glauben verloren hatte. Denn die Sorgfalt, mit der er heute seine Geschäfte erledigte, war keineswegs eine geringere als an anderen Tagen. Nur war diese Sorgfalt eine ganz, ganz andere. Sie war lediglich die Sorgfalt der Hände, der Augen, des Zwickers sogar. Und Herr von Trotta glich einem Virtuosen, in dem das Feuer erloschen, in dessen Seele es taub und leer geworden ist und dessen Finger nur noch in kalter, seit Jahren erworbener Dienstfertigkeit dank ihrem eigenen toten Gedächtnis richtige Klänge erzeugen
  • Luis Alvhas quoted3 years ago
    Er träumte – und er sprach auch davon –, daß die Toten ihn riefen und daß es Zeit für ihn sei, von dieser Erde abzutreten. Der alte Jacques, Max Demant, Hauptmann Wagner und die unbekannten erschossenen Arbeiter standen in einer Reihe und riefen ihn. Zwischen ihm und den Toten stand ein leerer Roulettetisch, auf dem die Kugel, von keiner Hand bewegt, dennoch ohne Ende rotierte.
  • Luis Alvhas quoted3 years ago
    Er las ein paar jener Bücher wieder – seit der Kadettenzeit hatte er nichts mehr gelesen –, die ihm sein Vater als Privatlektüre einst aufgegeben hatte, und jede Zeile erinnerte ihn an den Vater und an die stillen, sommerlichen Sonntagvormittage und an Jacques, an Kapellmeister Nechwal und an den Radetzkymarsch.
  • Luis Alvhas quoted3 years ago
    Mit derlei Überlegungen beschäftigt, wäre es ihm unmöglich gewesen, seinen Vater zu sehen und zu sprechen, obwohl er sich nach ihm sehnte. Er hatte eine Art Heimweh nach dem Vater, aber er wußte zugleich, daß sein Vater nicht mehr seine Heimat war.
  • Luis Alvhas quoted3 years ago
    Jemand hob seine Hand, wie er glaubte, eine fremde Stimme kommandierte aus ihm noch einmal: "Feuer!", und er konnte noch sehen, daß diesmal die Gewehrläufe gegen die Menge gerichtet waren. Eine Sekunde später wußte er gar nichts mehr.
  • Luis Alvhas quoted3 years ago
    In einer einzigen Sekunde rollten durch das aufgeregte Gehirn Leutnant Trottas Hunderte abgerissener Gedanken und Vorstellungen, manche gleichzeitig nebeneinander, und verworrene Stimmen in seinem Herzen geboten ihm, bald Mitleid zu haben, bald grausam zu sein, hielten ihm vor, was sein Großvater in dieser Lage getan hätte, drohten ihm, daß er im nächsten Augenblick selbst sterben würde, und ließen ihn zugleich den eigenen Tod als den einzig möglichen und wünschenswerten Ausgang dieses Kampfes erscheinen.
  • Luis Alvhas quoted3 years ago
    er sah die Zeiten wie zwei Felsen gegeneinanderrollen, und er selbst, der Leutnant, ward zwischen beiden zertrümmert.
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