Über die Bedeutung des «jüdischen Bolschewismus» für die Entstehung des tödlichen Antisemitismus in der NSZeit wurde bereits viel spekuliert. Doch die Geschichte zeigt: Er war Mythos und Wirklichkeit zugleich.
Die hinter der sozialistischen Idee stehende Überlegung klingt eigentlich ganz schlüssig: Der Sozialismus beseitigt die gesellschaftlichen Unterschiede und damit auch die Differenzen zwischen Juden und Christen. Dem Antisemitismus wäre damit der Boden entzogen. Bürgerliche und fromme Juden sprachen sich zwar von Anfang an gegen diesen Gedanken und damit gegen die «jüdische Romanze mit dem Kommunismus» aus. Nichtsdestoweniger wurde der Kommunismus von jüdischen Protagonisten mitgeprägt, was nach seiner Ausartung in eine Diktatur rasch zum Mythos einer jüdischen Verschwörung führte.
Dass die gesellschaftlichen Unterschiede nicht zu beseitigen waren, bedarf zwanzig Jahre nach dem Ende des kommunistischen Ostblocks keiner Erwähnung mehr. Dass aber auch der Antisemitismus durch den Bolschewismus nicht beseitigt, sondern im Gegenteil gar noch verschärft wurde, war nicht immer unumstritten.
Die gesamte Bandbreite zwischen Mythos und Realität des «jüdischen Bolschewismus» beleuchtete der Historiker Johannes Rogalla von Bieberstein in einer Studie, die nun — überarbeitet — als Buch vorliegt. Viele vergessene oder verdrängte grundlegende Fakten werden dabei aufgerollt. Bieberstein widmet sich auch kaum bekannten Vorgängen in verschiedenen europäischen Ländern und zeigt auf, wie die rhetorische Figur vom «jüdischen Bolschewismus» antisemitische Ressentiments beförderte.