Herder geht in seiner «Abhandlung über den Ursprung der Sprache» der Frage nach, wie und warum die menschliche Sprache entstanden ist. Er beschreibt darin, welche Rolle die Sprache für den Menschen, seine Entwicklung und seine Identität spielt. Der folgende Text ist eine kurze Zusammenfassung zu den Funktionen der Sprache, wie sie von Herder persönlich gesehen und in seiner Abhandlung beschrieben worden sind. Auf die Verwendung des Konjunktivs wird zum besseren Verständnis des Textes verzichtet. Einige Philosophen haben zuvor versucht, die Entstehung menschlicher Sprache zu erklären. Alle haben sie teils fehlerhafte Ansichten vertreten und teils falsche Schlussfolgerungen aus diesen gezogen. Besonders die Theorie einer göttlichen Erfindung der Sprache, wie Süßmilch sie aufstellte, ist von der Hand zu weisen.
Die Sprache ist eine Erfindung des Menschen. Das erste Wort wurde vom ersten Menschen in dem Moment, in dem er Besinnung erlangte, erfunden. Dieser Mensch hat sein Leben lang Wörter gesammelt, um seine Erfahrungen festzuhalten. Ihr Wissen gaben die ersten Menschen an ihre Kinder weiter, die wiederum Erfahrungen sammelten. Im Laufe der Menschheitsgeschichte hat die Sprache sich weiterentwickelt. So, wie Menschen sich über die Welt verbreitet haben, tat es die Sprache. Der Mensch grenzt sich durch verschiedene Faktoren von den Tieren ab. Er handelt nicht instinktiv, sondern besonnen. Er hat (unter anderem durch die Fähigkeit der Vorstellungskraft) eine sehr weite Lebenssphäre und viele Möglichkeiten. Er kann in verschiedensten Klimazonen überleben. Doch er kommt schwach und hilflos zur Welt. Seine Sinne sind vielfältiger, aber stumpfer als die der Tiere. Und zusätzlich, und teilweise genau wegen dieser Verschiedenheiten, hat er als einzige Spezies eben Sprache.