Das blonde Mädchen rannte genau auf die Säule links außen zu. Selbst wenn Alena im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten gewesen wäre, hätte sie es unmöglich erreichen können, ehe das Unvermeidbare geschah. Jannica sprang vom Boden ab und hechtete in die Lichtröhre. Ihre Hände berührten den Kopf. Gleißen umfing sie. Für einen Moment war Alena geblendet, als die gesamte Säule in einer Lichtflut zu explodieren schien. Strahlendes Violett ergoss sich über die Grotte. Alena stürmte auf Jannica zu, doch sie war nicht schnell genug. Die junge Norwegerin federte ansatzlos vom Boden und sprang in die zweite Säule. Das Licht flutete durch die Grotte, und als hätte es für einen Moment Substanz angenommen, packte es Alena und schleuderte sie mitten im Sprung in eine andere Richtung, weit fort von Jannica und der Säule, in der Gedeon gefangen gehalten wurde.
Jannica stand auf und streckte die Hände vor. Sie drehte sich im Kreis und versuchte, blind, wie sie nun war, die letzte Säule zu orten. “Wo steckst du?”
“Hier!”, rief Gedeon. Im selben Moment begann auch seine Röhre zu flackern. Er schrie noch etwas, das Alena nicht verstand, dann verschwand sein Gesicht und mit ihm das violette Leuchten.
Finsternis umfing die beiden Frauen. Auch der lodernde Bodensatz war verschwunden. Zwei der Säulen waren endgültig zerstört, der Durchgang in die Dunkelsphäre war damit unmöglich geworden.
Die Vier Säulen der Macht waren für alle Vampire eine heilige Institution, ihre Zerstörung ein Schock, von dem sie sich nicht erholten. Doch waren sie wirklich zerstört? Jannica Forsmann hatte zwei der Säulen durch ihr Eingreifen vernichtet, aber die beiden anderen Säulen waren nur erloschen, nicht zerstört. In ihnen lebten zwei Opyri, die sich selbst nicht mehr kannten, die aber immer noch lebten. Ihr Geist irrte, nach menschlichem Ermessen jahrelang, durch die Dunkelheit und den Wahnsinn, bis sie sich zusammenfanden, um sich gegenseitig Halt zu geben. Aus diesen beiden entwickelte sich etwas vollkommen Unerwartetes.
Niemand hatte gewusst, wer die beiden Opyri waren, die daran gebannt wurden. Raphael Archambault und Irene de Beer hatten nie eine herausragende Rolle gespielt – bis zu dem Zeitpunkt, da Jannica den uralten Zauberbann brach. Es dauerte lange, bis sich die beiden verlorenen Seelen fanden und zu etwas Neuem formten: Eine verlorene Seele, die ihren Platz und ihre Bestimmung in der Welt suchte, keinen Begriff von Gut und Böse hatte, und auch nicht wusste, dass sie durch die Verschmelzung der eigenen Seelen viel Unheil anrichtete.
Der Seelenschmelzer war wie ein Kind auf der Suche nach seiner verlorenen Mutter. Nichtsdestotrotz gab es in seinem Umfeld Tod und Verderben.