Das Mädchen Vroni, zu Beginn der Geschichte sechs Jahre alt, wächst in einer Großfamilie im Allgäu auf, die vom Großvater mit harter Hand regiert wird. Vroni ist den familiären Machtverhältnissen hilflos ausgeliefert. Insbesondere leidet sie unter den unkontrollierten Wutausbrüchen ihres Vaters, der als Kriegsversehrter eine vom Großvater ganz und gar abhängige Existenz führt. Niemand hat den Mut oder die Position, Vroni beizustehen, auch die Mutter nicht. Aber da gibt es Pierre, der Sohn der jüdischen Fabrikantenfamilie im Dorf, die nach Kriegsende aus dem Osten kam, um die geerbte Fabrik zu übernehmen. Pierre spielt Klavier wie Mozart, er “ist” Mozart, ihr Held, der ihr mit seiner Kunst eine Gegenwelt zu den bedrückenden und grausamen Verhältnissen in ihrem Zuhause eröffnet. Mit diesem Jungen, körperlich ein Krüppel, zu dem ihr der Kontakt strengstens untersagt ist, verbindet sie eine zärtliche Freundschaft. Doch als durch Intrigen der Dorfbewohner der Konkurs der Fabrik herbeigeführt und Pierres Familie vertrieben wird, bricht für Vroni eine Welt zusammen.
Mit Rauken ist es Claire Beyer gelungen, eine sprachmächtige, in ungeheuer dichten Bildern den Leser bis zum letzten Satz bannende und bewegende Geschichte über Machtverhältnisse, die seelischen Folgen von Gewalt, die Psyche der Opfer zu schreiben. Die stilsichere Erzählung ist nicht nur ein psychologisches Porträt, sondern zugleich ein politischer Text, der den Blick eines Kindes wiedergibt, das so unerfahren ist wie die junge Bundesrepublik, und am Beispiel eines kleinen Dorfes in Süddeutschland zeigt, wie sehr die Nachkriegsgesellschaft in der Phase des Wiederaufbaus noch der Katastrophe des Faschismus verhaftet ist, die sie zu verdrängen sucht.